Roman
von
Hermann Hesse
München, bei Albert Langen
1910
Elfte Auflage
Copyright 1910 by
Albert Langen, Munich
Wenn ich, von außen her, über meinLeben weg schaue, sieht es nichtbesonders glücklich aus. Dochdarf ich es noch weniger unglücklichheißen, trotz aller Irrtümer. Es ist amEnde auch ganz töricht, so nach Glück undUnglück zu fragen, denn mir scheint, die unglücklichstenTage meines Lebens gäbe ich schwererhin als alle heiteren. Wenn es in einemMenschenleben darauf ankommt, das Unabwendbaremit Bewußtsein hinzunehmen, dasGute und Üble recht auszukosten und sich nebendem äußeren ein inneres, eigentlicheres, nichtzufälliges Schicksal zu erobern, so war meinLeben nicht arm und nicht schlecht. Ist dasäußere Schicksal über mich hingegangen wieüber alle, unabwendbar und von Götternverhängt, so ist mein inneres Geschick dochmein eigenes Werk gewesen, dessen Süße oderBitterkeit mir zukommt und für das ich die Verantwortungallein auf mich zu nehmen denke.
Manchmal in früheren Jahren habe ichgewünscht, ein Dichter zu sein. Wäre ich einer,so widerstünde ich der Lockung nicht, meinemLeben bis in die zarten Schatten der Kinderzeitund bis zu den lieben, zärtlich gehütetenQuellen meiner frühesten Erinnerungen nachzugehen.So aber ist mir dieser Besitz allzulieb und heilig, als daß ich ihn mir etwaselber verderben möchte. Von meiner Kindheitist nur zu sagen, daß sie schön und heiterwar; man ließ mir die Freiheit, meine Neigungenund Gaben selber zu entdecken, mirmeine innigsten Freuden und Schmerzen selberzu schaffen und die Zukunft nicht als einefremde Macht von oben, sondern als die Hoffnungund den Erwerb meiner eigenen Kräfteanzusehen. So ging ich unberührt durch dieSchulen, als ein unbeliebter und wenig begabter,doch ruhiger Schüler, den man amEnde gewähren ließ, da er keine starken Einflüssezu dulden schien.
Etwa von meinem sechsten oder siebentenJahr an begriff ich, daß von allen unsichtbarenMächten die Musik mich am stärksten zu fassenund zu regieren bestimmt sei. Von da anhatte ich meine eigene Welt, meine Zufluchtund meinen Himmel, den mir niemand nehmenoder schmälern konnte und den ich mit niemandzu teilen begehrte. Ich war Musiker, obwohlich vor meinem zwölften Jahre kein Instrumentspielen lernte und nicht daran dachte, spätermein Brot mit Musikmachen verdienen zuwollen.
Dabei ist es seither geblieben, ohne daßetwas Wesentliches sich geändert hat, unddarum erscheint mir beim Rückblick mein Lebennicht bunt und vielgestaltig, sondern von Anfangan auf einen Grundton gestimmt undauf einen einzigen Stern gestellt. Mochtees sonst wohl oder übel gehen, mein innerstesLeben blieb unverändert. Ich mochte langeZeiten auf fremden Wassern treiben, keinNotenheft und kein Instrument anrühren, eineMelodie lag mir doch zu jeder Stunde imBlut und auf den Lippen, ein Takt und Rhythmusim Atemholen und Leben. So begierigich auf manchen anderen Wegen nach Erlösung,nach Vergessen und Befreiung suchte,so sehr ich nach Gott, nach Erkenntnis undFrieden dürstete, gefunden habe ich das allesimmer nur in der Musik. Es brauchte nichtBeethoven oder Bach zu sein: – daß überhauptMusik in der Welt ist, daß ein Menschzuzeiten bis ins Herz von Takten bewegtund von Harmonien durchflutet werden kann