Anmerkung zur Transkription:

Schreibweise und Interpunktion des Originaltextes wurdenohne Änderungen übernommen.

F. M. Dostojewski


Der
Großinquisitor

Übertragen von Rudolf Kassner


Im Insel-Verlag zu Leipzig

In seiner unermeßlichen Barmherzigkeit zeigt Er sichnoch einmal den Menschen in derselben Gestalt,in welcher Er vor fünfzehn Jahrhunderten drei Jahrelang unter ihnen gewandelt ist. Er läßt sich herab aufdie ›brennenden Plätze‹ der südlichen Stadt, in dernoch am Vorabend in Gegenwart des Königs, des gesamtenHofstaates, der Ritterschaft, der Kardinäle undentzückender Frauen vor der ganzen EinwohnerschaftSevillas durch den Kardinal-Großinquisitor nicht wenigerals ein volles Hundert Ketzer auf einmal ad majoremdei gloriam verbrannt worden war.

Leise und unauffällig erscheint Er unter den Menschen,und siehe, es erkennen Ihn alle. Das Volk drängtsich an Ihn heran mit unbezwinglicher Gewalt. Esumgibt Ihn, wächst um Ihn und folgt Ihm. Schweigendschreitet Er unter ihnen, mit dem stillen Lächelnunendlichen Mitleids auf den Lippen. Die Sonne derLiebe brennt in seinem Herzen, Strahlen des Lichtes,der Erleuchtung und Kraft strömen aus seinen Augenund gießen sich über die Menge und wecken die Herzender Menschen. Er streckt ihnen seine Hand entgegenund segnet sie, und aus der Berührung mit seinem Körper,ja schon aus seinem Gewande fließt heilende Kraft.Ein Greis, der seit der Kindheit blind war, ruft aus derSchar: ›Herr, heile mich, damit ich Dich erkenne!‹Und siehe, von seinen Augen fällt es wie Schuppen, und der Blinde sieht. In den Augen der Menschensind Tränen, das Volk küßt die Erde, über die Er hinwandelt,die Kinder werfen Blumen vor seine Schritte,singen Lieder und rufen Hosianna. ›Er ist es, Er,‹wiederholen alle, ›Er muß es sein und kein anderer.‹So kommt Er vor das Tor der Kathedrale, wo Menschenunter Heulen und Wehklagen einen weißen offenenKindersarg tragen, darin ein siebenjähriges Mädchenliegt, die einzige Tochter eines angesehenen Bürgers derStadt. Das tote Kind liegt da, ganz in Blumen gebettet.›Er wird dein Kind auferwecken vom Tode‹,rufen Stimmen der weinenden Mutter zu. Aus derKathedrale tritt dem Sarge ein Priester entgegen, ervermag nicht gleich zu fassen, was hier geschieht, undrunzelt die Stirne. Da hört er ein Aufschluchzen: es istdie Mutter des toten Mädchens, sie wirft sich zu seinenFüßen nieder und hebt ihre Hand zu Ihm auf und ruftaus: ›Wenn Du es bist, dann wecke mein Kind vomTode auf!‹ Die Prozession bleibt stehen, der Sarg wirdvor Ihm auf den Boden gelassen. Er sieht auf ihn herniedervoll Rührung, und sein Mund spricht nocheinmal: ›Talifa kumi.‹ Und das Mädchen erhebt sichim Sarge, setzt sich auf und blickt im Kreise um sichmit erstaunten offenen Augen. In den Händen hält esdas Sträußlein weißer Rosen, mit dem es im Sargegelegen hat. Das Volk ist bewegt, Stimmen, Schreie, Schluchzen. In diesem Augenblicke geht an der Kathedraleüber den Platz der Kardinal vorbei, der Großinquisitor,ein Greis von bald neunzig Jahren, hochund aufrecht, mit ve

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