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und andere Novellen
von
Jassy Torrund
Leipzig
Druck und Verlag von Philipp Reclam jun.
Übersetzungsrecht vorbehalten
Nie in ihrem ganzen Leben war Leonie Wilten sogrenzenlos überrascht und enttäuscht gewesen – unddennoch nicht ohne das Gefühl einer leis und heimlichaufzuckenden Freude, wie an jenem Frühlingsabend,wo die Großeltern, von ihrem gewohnten Spaziergangheimkehrend, ihr den ins Haus geschneiten Gast vorstellten.
Die beiden Gäste vielmehr: den Dr. med. Erdmannund dessen Schwester, die mit eigenem Automobil inder Kreisstadt waren und auf dem Heimweg, weitdraußen auf der Chaussee, eine gründliche Panne erlittenhatten.
Großvater Neuhaus, der alte Automobilhasser, deralle Welt und den alle Welt kannte, war mit halbschadenfroher Neugier hinzugetreten und hatte imDämmern des Märzabends den ihm flüchtig bekanntenArzt eines weitentlegenen Kirchdorfes erkannt und ihmohne Besinnen Hilfe und Unterstand angeboten. Beideshatte Dr. Erdmann dankend angenommen und mitHilfe von ein paar Arbeitern das verunglückte Vehikelin Großvaters Schuppen geschleppt. Er hatte dannum Wagen und Pferd nach Hause telephoniert, sichein wenig gesäubert – denn er und Lieselott, seineSchwester, hatten schon eine halbe Stunde angestrengtund im Schweiße ihres Angesichts über dem widerspenstigenAuto gearbeitet, ehe Hilfe kam – und nun[4]erschienen die beiden späten unerwarteten Gäste imhellen behaglichen Speisezimmer von »Haus Friede«,wo der gedeckte und mit großem Schneeglöckchensträußengeschmückte Abendtisch schon bereit stand.Sie wurden dem Haustöchterchen und ihrem VetterLuz Neuhaus vorgestellt und erzählten in lebhaftemDurcheinander, lachend und scheltend, ihr Abenteuer.Vor drei bis viertehalb Stunden konnte der Einspännermit dem braven Füchslein, das schon so oftdie Sünden des eigensinnigen Schnauferls gutmachenmußte, nicht da sein. Man hatte also vollauf Zeit,recht bekannt und vergnügt miteinander zu werden.Improvisierte Feste sind oft die allergelungensten,und dieser ins Haus geschneite Abendbesuch war imwahren Sinne des Worts ein Fest für die sehr einsamlebende Familie des großen Ziegeleibesitzers.
Der kleine Unfall brachte die bisher einanderFremden schnell und zwanglos nahe, und das Gesprächglitt leichtbeschwingt vom Hundertsten insTausendste. Man grub gemeinsame Beziehungen aus,erzählte die neuesten Anekdoten und Varietéwitze, lachteund plauderte, und während all dieser Zeit zerbrachLeonie Wilten sich den feinen klugen Kopf, wann undwo sie diesen Dr. Erdmann mit der langen weißenNarbe über Stirn und Schläfe schon gesehen hätte.Denn eben diese Narbe haftete zäh und fest in ihrer Erinnerung,die mußte sie schon einmal im Leben gesehenhaben, nur daß sie damals viel breiter und noch frischund rot war, während sie jetzt wie ein schmaler weißerStrich über das sonnverbrannte Gesicht des Landarzteslief. Aber wann? aber wo?
Lieselott E