Wilhelm Hauff
In einem schönen, fernen Reiche, von welchem die Sage lebt, daß die Sonne inseinen ewig grünen Gärten niemals untergehe, herrschte von Anfang an bis heutedie Königin Phantasie. Mit vollen Händen spendete diese seit vielenJahrhunderten die Fülle des Segens über die Ihrigen und war geliebt, verehrtvon allen, die sie kannten. Das Herz der Königin war aber zu groß, als daß siemit ihren Wohltaten bei ihrem Lande stehen geblieben wäre; sie selbst, imköniglichen Schmuck ihrer ewigen Jugend und Schönheit, stieg herab auf dieErde; denn sie hatte gehört, daß dort Menschen wohnen, die ihr Leben intraurigem Ernst, unter Mühe und Arbeit hinbringen. Diesen hatte sie dieschönsten Gaben aus ihrem Reiche mitgebracht, und seit die schöne Königin durchdie Fluren der Erde gegangen war, waren die Menschen fröhlich bei der Arbeit,heiter in ihrem Ernst.
Auch ihre Kinder, nicht minder schön und lieblich als die königliche Mutter,sandte sie aus, um die Menschen zu beglücken. Einst kam Märchen, die ältesteTochter der Königin, von der Erde zurück. Die Mutter bemerkte, daß Märchentraurig sei, ja, hier und da wollte ihr bedünken, als ob sie verweinte Augenhätte.
„Was hast du, liebes Märchen“, sprach die Königin zu ihr, „dubist seit deiner Reise so traurig und niedergeschlagen, willst du deiner Mutternicht anvertrauen, was dir fehlt?“
„Ach, liebe Mutter“, antwortete Märchen, „ich hätte gewißnicht so lange geschwiegen, wenn ich nicht wüßte, daß mein Kummer auch derdeinige ist.“
„Sprich immer, meine Tochter“, bat die schöne Königin, „derGram ist ein Stein, der den einzelnen niederdrückt, aber zwei tragen ihn leichtaus dem Wege.“
„Du willst es“, antwortete Märchen, „so höre: Du weißt, wiegerne ich mit den Menschen umgehe, wie ich freudig auch bei dem Ärmsten vorseiner Hütte sitze, um nach der Arbeit ein Stündchen mit ihm zu verplaudern;sie boten mir auch sonst gleich freundlich die Hand zum Gruß, wenn ich kam, undsahen mir lächelnd und zufrieden nach, wenn ich weiterging; aber in diesenTagen ist es gar nicht mehr so!“
„Armes Märchen!“ sprach die Königin und streichelte ihr die Wange,die von einer Träne feucht war, „aber du bildest dir vielleicht diesalles nur ein?“
„Glaube mir, ich fühle es nur zu gut“, entgegnete Märchen,„sie lieben mich nicht mehr. Überall, wo ich hinkomme, begegnen mir kalteBlicke; nirgends bin ich mehr gern gesehen; selbst die Kinder, die ich dochimmer so lieb hatte, lachen über mich und wenden mir altklug den Rückenzu.“
Die Königin stützte die Stirne in die Hand und schwieg sinnend.
„Und woher soll es denn“, fragte die Königin, „kommen,Märchen, daß sich die Leute da unten so geändert haben?“
„Sieh, die Menschen haben kluge Wächter aufgestellt, die alles, was ausdeinem Reich