LEONHARD FRANK / DER BÜRGER

LEONHARD FRANK

DER BÜRGER

ROMAN

1.-44. TAUSEND

DER MALIK-VERLAG / BERLIN

DER BÜRGERLICHEN JUGEND GEWIDMET

I

Endlich beschloß der Gymnasiast Jürgen Kolbenreiher:‚Wenn noch ein Auto kommt, bevor die Turmuhrfünf schlägt, geh ich hinein und kaufe die Broschüre... Ehrenwort?‘

„Ehrenwort!“ sagte er heftig zu sich selbst und laswieder den Titel der philosophischen Abhandlung.Seine Hand, die das Geld hielt, war naß. Der Blickzuckte fortwährend von der Broschüre zum Ziffernblatt.Der Zeiger stand knapp vor fünf.

Da sauste das Auto um die Ecke, am Buchladenvorbei und war weg. Die Uhr hatte noch nicht geschlagen.Jürgen wollte eintreten.

Und nahm seinen Schritt zögernd wieder zurück.‚Was wird mein Vater sagen, wenn ich sie kaufe? ...Und was würde er sagen, wenn er wüßte, daß ich siekaufen will und dazu den Mut nicht habe? ... Oderwürde er verächtlich lächeln, wenn ich jetzt kurz entschlossenin den Laden ginge?‘

Die Finger vor dem Leibe ineinander verkrampft,kämpfte er weiter, las den Titel, sah, wie der großeZeiger einen letzten Sprung machte. Und fühlte,während er sich „Feigling! Elender Feigling!“ schimpfte,daß sein Wille hinter der Stirn zu Nebel wurde. DasPhantom des Vaters stand neben ihm.

Das Werk rasselte und schlug. Der Nebel verschwand.Und Jürgen dachte: Ich kann auch jetztnoch hinein. Aber sofort! ... Hat der Buchhändlereben gelächelt? Über mich?

Der stand im Türrahmen und blickte gelangweiltüber die gepflegte, sonndurchwirkte Anlage weg,in der die kreisenden Rasenspritzen Regenbogenschlugen.

‚Solange er unter der Tür steht, kann ich ja nichthinein.‘

Der Buchhändler gähnte, trat gähnend in seinenLaden zurück.

‚Jetzt! ... Wenn ich den Mut jetzt nicht aufbringe,wird das Leben auch in Zukunft mit mirmachen, was es will. Das ist klar.‘

Da erschien bei der Kirche ein Mitschüler Jürgens,Karl Lenz, Sohn eines Universitätsprofessors. Jetztnatürlich kann ich nicht hinein, dachte Jürgen undging mit Karl Lenz in die Anlage, sah abwesend eineBonne an. Die gestärkten Röcke strotzten, und derelegante Kinderwagen federte von selbst auf dem gewalztenSandwege am Tulpenrondell vorüber.

Knapp hinter dem Kinderwagen ritt, das frischbackigeGesicht stolz erhoben, in verhaltenem Trabeein kleines Mädchen im Knieröckchen so feurig aufdem Steckenpferde, daß die langen, schön gewölbten,nackten Schenkel sichtbar wurden. Die Gruppemachte sofort Halt, als der im Wagen strampelndeSäugling die Hand nach dem zu hoch hängendenHampelmann ausstreckte.

Das Mädchen ritt, die Locken schüttelnd, in gezähmterPferdeungeduld feurig an der Stelle weiterund sah, Brust vorgestreckt, über den abgerissenen,abgezehrten, blutleeren Proletarierjungen weg, dersich aus der Fabrikgegend in die Sonne verirrt hatteund, das Drama der Armut im Blick, offenen Mundesden Reichtum bestaunte.

Jürgen konnte die Augen nicht abwenden von demJungen, der seine Augen von dem glänzenden Mädchenerst losriß, als er sich beobachtet fühlte. Dunkelfragend sah er empor zu Jür

...

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